Ebookcover

Inhalt

Eine junge Frau im goldenen Käfig
Ein Rebell auf der Suche nach Gerechtigkeit
Und ein Land am Rande der Revolution

Lilianas Leben scheint perfekt: Ihre Familie genießt großen Reichtum und sie selbst ist dem Kronprinzen versprochen. Doch als ihr kurz vor ihrer Verlobung der Geist ihrer toten Mutter erscheint, muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen. Liliana erkennt, dass sie in höchster Gefahr schwebt. Denn in ihr schlummert ein magisches Erbe und auf Hexen wartet nur der Tod.

Ihre Suche nach der Wahrheit führt sie geradewegs in die Arme des Rebellenanführers, der Lilianas Herz auf verbotene Weise höherschlagen lässt. Doch auf ihren Schultern lastet das Schicksal des gesamten Landes – und Lügen und Verrat lauern außerhalb ihres goldenen Käfigs …

Details

  • Genre: Romantasy/ Dark Fantasy
  • Altersempfehlung: Ab 14 Jahren
  • ET: 20.04.2023
  • ISBN: 979-8386422516
  • erhältlich als:
    e-book
    Taschenbuch
    Exklusiv auf Amazon
  • Bei Kindl unlimited verfügbar

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5/5

Leseprobe

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Kapitel 1

Liliana zerknüllte das Schriftstück zum einhundertsten Mal. Es wog schwer in ihrer Hand. So schwer wie die Worte, die mit schwarzer Tinte auf das vergilbte Papier gekritzelt waren. Sie waren durch die vielen Knicke kaum noch lesbar, doch sie kannte jedes Wort darin auswendig.
Seit sie den Brief letzte Nacht im Arbeitszimmer ihres Vaters gefunden hatte, hatte sie kein Auge mehr zugetan. Immer und immer wieder hatte sie die Worte gelesen, versucht, ihre Bedeutung zu verstehen. Doch ihr Kopf war so voll und gleichzeitig so leer, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Die Kutsche setzte sich ruckartig in Bewegung und holperte über das abgetretene Pflaster. Ihr unterer Rücken verspannte sich trotz der mit dunklem Samt überzogenen Sitzbank schmerzhaft und sie unterdrückte ein Stöhnen. Sie hasste Kutschfahrten.
Ihr Blick glitt zum Fenster. Trotz der geschlossenen Kutschtür kroch der Duft nach Regen und ersten Sonnenstrahlen zu ihr herein. Es war der beflügelnde Geruch von nasser Erde, wie man ihn nur kurz nach einem Regenschauer riechen konnte. Doch heute hinterließ er einen ranzigen Geschmack auf ihrer Zunge.
Den ganzen Morgen hatte es gewittert und die Gräser und Blumen waren gesprenkelt mit Wassertropfen, die in der Sonne glitzerten. Die Wolkendecke war aufgerissen und lange goldene Finger griffen nach dem grauen Nebel in den Straßen und verjagten ihn.
Die Strahlen erleuchteten die Zinnen der Kirche, die hoch in den Himmel aufragte, und ließen die bunten Glasfenster in allen nur erdenklichen Farben leuchten. Das Bild, das sich Liliana bot, wirkte fast so unwirklich wie in einem Traum. Würde sie an einen Gott glauben, wäre sie womöglich fest davon überzeugt, dass dies ein Zeichen war. Doch das tat sie nicht. Sie glaubte weder an Dias, den einzig wahren Gott, wie der Hohepriester und seine Anhänger zu predigen pflegten, noch an irgendwelche anderen Götter. Nicht seit den Ereignissen vor neun Jahren.
Ihr Blick glitt ein letztes Mal zu der mit Morgenreif, Moos und Efeu überzogenen Friedhofsmauer. Mit ihrem Finger fuhr sie bedächtig über den glatten Stein an ihrer Hand. Ein Smaragd, eingefasst in einen mit Rosenranken verzierten Ring aus Gold. Es war das Einzige, was ihr von ihrer Mutter geblieben war. Neun lange Jahre war es her, dass sie gestorben war. Nein, nicht gestorben. Sie war ihr genommen worden. Von den Menschen dieses Landes und den haltlosen Anschuldigungen ihrer Familie gegenüber in den Tod getrieben. Das hatte sie zumindest all die Jahre geglaubt, bis sie letzte Nacht den Brief gefunden hatte, der genau diese bestärkte und gar nicht mehr so haltlos aussehen ließ.
Ihre Finger verkrampften sich erneut um das mittlerweile schwitzige Papierknäuel. Sie musste dringend mit ihrem Vater sprechen. Sie musste wissen, ob das, was in dem Brief stand, der Wahrheit entsprach. Dass er der Grund für das Zerbrechen ihrer Familie und damit den Tod ihrer Mutter war.
Bei diesem Gedanken bäumte sich ihr Herz auf und sie holte zitternd Luft. Sie wischte sich über die Augen und blinzelte die störrischen Tränen fort, die sich hineingeschlichen hatten.
Mit zusammengepressten Kiefern richtete sie ihren Blick erneut aus dem Fenster und versuchte, ihre wirbelnden Gedanken auszublenden.
Die Kutsche fuhr durch eine der Prachtstraßen Lomdans, der Hauptstadt Esbrens. Sie war gesäumt von aneinandergereihten Fachwerkhäusern. Die goldenen Giebel glänzten in der Sonne und die schmucken Fensterläden aus dunklem Mahagoni zeugten von dem Wohlstand der Bewohner. Doch am schönsten waren die Fassadenbemalungen. Wanden sich an einer Hauswand Blumenranken empor, tötete an einer anderen einer der sagenumwobenen Ritter der alten Zeit ein geflügeltes Monster oder der Gott Dias wurde umgeben von seinen Anhängern in goldenem Licht dargestellt.
Die Bemalungen hatten Liliana schon immer fasziniert, denn sie liebte es, in Geschichten einzutauchen, und dachte seit jeher darüber nach, welche sich wohl hinter den kunstvollen Malereien verbargen. Doch selbst das wirkte heute unwichtig und trist.
Bedienstete öffneten die Fensterflügel und schüttelten Kissen aus oder fegten geschäftig die Stufen vor den mit aufwendigen Schnitzereien verzierten Türen. In diesem Teil der Stadt, der sich über die gesamte Breite zwischen der Kirche und dem Schloss erstreckte, lebten die reichen Kaufmänner und Bürger des Landes. Der Adel hingegen hatte sich etwas außerhalb der Hauptstadt auf seinen Landsitzen niedergelassen und mied den Gestank der Stadt, der von der braunen Brühe in den Gräben entlang der Straße ausging.
Die Kutsche ratterte über das glatt gewetzte Pflaster einer Brücke, die sich über einen Kanal spannte, der die Hauptstadt in zwei Hälften schnitt, und tauchte in ihr pulsierendes Herz ein.
Die Häuser auf dieser Seite des Kanals waren um einiges kleiner und schmiegten sich so eng aneinander, dass man nicht erkennen konnte, wo das eine aufhörte und das andere begann. Die Fassaden der Fachwerkhäuser waren mit Schmutz und Rissen überzogen, die Dächer bogen sich unter unsichtbaren Lasten und nicht wenige Fensterläden hingen schief in ihren Angeln. Zwischen den verschachtelten Häuschen erstreckte sich ein Labyrinth aus dunklen Gassen, in die man sich als Adelige nicht hineinwagen sollte. Manche waren so schmal, dass man das Gefühl bekam, von den Wänden der Nachbargebäude zerquetscht zu werden.
Liliana holte ein weißes Baumwolltuch aus ihrer Manteltasche und drückte es sich auf Mund und Nase. Rosenduft hüllte sie ein und dämpfte den erbärmlichen Gestank, der in der Luft lag. In diesem Teil der Stadt war es unerträglich. Das lag nicht nur an dem Dung der Marktrinder oder den Tieren, die durch die Gassen getrieben wurden. Mehr Menschen bedeutete mehr Gestank und die Gräben am Rand der Straße liefen fast über.
Doch obwohl sie den prächtigen Glanz hinter sich gelassen hatten, erblühte hier das Leben. Das geschäftige Treiben, der Lärm und das Stimmengewirr, das sich um sie herum erhob, zwang all ihre Gedanken zum Schweigen.
Männer schoben Karren beladen mit Heu, Holz, Mehlsäcken und Milch an ihnen vorbei. Das Klappern von Hufen hallte von den Häuserwänden wider und das durchdringende Gebrüll von Kühen und das Blöken von Ziegen und Schafen erfüllte die Luft. Frauen eilten, vollbepackt mit Wäsche und gefüllten Körben, den Fußweg entlang, riefen einander etwas zu oder blieben für einen Moment stehen, um sich über die neuesten Ereignisse auszutauschen. In all dem Gewirr rannten schreiend und lachend Kinder umher.
Zwischen den Giebeln der Häuser waren Wimpel über die Straße gespannt, die farbenfroh in der Sonne leuchteten. An den Fenstersimsen wehten die purpurnen, mit Gold bestickten Flaggen des Königs und an den Türen hingen Kränze aus Tannengrün, Efeu, Eukalyptus, Heide und roten Beeren. Offenbar waren die letzten Vorbereitungen für das Fest in vollem Gange.
Während der nächsten drei Tage und Nächte würde die Musik in diesen Straßen nicht mehr verklingen und die Tänze erst ein Ende finden, wenn die Feiernden vor Erschöpfung in ihre Betten fielen.
Liliana schluckte. Die Menschen hier wirkten so glücklich und frei von Verpflichtungen und Zwängen. Wie sie sie beneidete. Nein, in diesem Moment hasste sie sie dafür. Für ihre Unbeschwertheit und ihre Freude.
Die Straße wurde breiter und sie näherten sich dem Marktplatz. Das rege Treiben um sie herum verdichtete sich und sie kamen nur langsam voran. Ab und an lugte jemand durch ihr Kutschfenster und sie zog mit einem genervten Seufzer die Vorhänge zu. Sie hasste es, wenn die Leute sie anstarrten.
Während sie in der dämmrigen Kabine saß und durchgeschaukelt wurde, lauschte sie dem stetigen Lärm. Der Geräuschpegel war hoch und sie begrüßte es, dass sie keinen anderen Gedanken fassen konnte. Marktschreier boten ihre Waren feil und der Duft von frischem Gebäck bahnte sich seinen Weg durch die geschlossene Kutschtür, durch den Dunggestank und den Rosenduft ihres Tuches, und erinnerte sie daran, dass sie das Haus ohne Frühstück verlassen hatte.
Plötzlich durchschnitt ein Schrei das fast beruhigende Tosen. Er war anders als das Lärmen zuvor und holte sie mit einem Satz in die Wirklichkeit zurück. Es war kein freudiger Ausruf, sondern einer, der einem die Haare zu Berge stehen und das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein Schrei in Todesangst.
Dann brach Chaos um sie herum aus. Laute Rufe hallten durch die bis eben von Vorfreude gefüllten Straßen und vermischten sich mit dem Geschrei. Mit einem scharfen Ruck kam die Kutsche zum Stehen und Liliana fiel nach vorne. Mit ausgestreckten Armen fing sie sich an der gegenüberliegenden Sitzbank ab und blieb mit weit aufgerissenen Augen keuchend sitzen.
Was passierte hier?
»Collin?« Ihre Stimme brach. Sie krallte ihre Finger in das Samtpolster und versuchte, ihr aufgeschrecktes Herz zu beruhigen. »Collin?«
Keine Antwort.
Hatte der alte Kutscher sie wegen des Tumults nicht gehört?
Liliana nahm all ihren Mut zusammen und schob den Vorhang etwas zur Seite. Menschenmassen flohen aus Richtung des Marktplatzes. Die Gesichter blass, die Augen vor Angst weit aufgerissen und ihre Münder vor Entsetzen geweitet. Kinder klammerten sich wimmernd an ihre Mütter und alle trampelten über am Boden liegende Lebensmittel und Kleidung hinweg.
Collins faltiges Gesicht tauchte so plötzlich vor ihr auf, dass sie aufschrie. Seine Haut war genauso blass wie der Kragen des Hemdes, das unter seinem schwarzen Ledermantel hervorlugte.
»Mylady, Ihr müsst in der Kutsche bleiben!«, rief er über den Lärm hinweg.
Bevor Liliana fragen konnte, was vor sich ging, zog er einen langen Dolch unter seinem Mantel hervor und verschwand humpelnd aus ihrem Blickfeld. Sie wollte ihm hinterherrufen, dass er sie nicht allein lassen solle, doch nur ein kläglicher, quietschender Laut verließ ihre Lippen. Mit zitternden Händen zog sie die Vorhänge wieder zu und kauerte sich zusammen in dem Versuch, unsichtbar zu werden. Das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren überdeckte das anhaltende Geschrei draußen und ihr hektischer Atem hallte ungewöhnlich Laut in der düsteren Kabine wider.
Ruckartig wurde die Kutschtür aufgerissen und ein spitzer Ausruf verließ ihre Lippen. Bevor sie reagieren konnte, schlang jemand einen kräftigen Arm um ihre Taille und riss sie zurück. Mit voller Wucht wurde sie gegen die Sitzbank geschleudert und ein ersticktes Keuchen entfuhr ihr, als sich die harte Holzkante in ihren Rücken bohrte.
Hektisch rang sie nach Atem, doch ihr Angreifer verwehrte ihr die rettende Luft, indem er ihr seine große, behandschuhte Hand auf den Mund presste. Der Geruch von Leder, Schweiß und etwas Metallenem stieg ihr in die Nase.
Sie riss die Augen panisch auf und schlug um sich. Wie eine Raubkatze hieb sie mit ihren Fingernägeln nach ihrem Angreifer. Ihre Hände trafen auf Stoff und Leder, doch prallten nutzlos daran ab.
Der Eindringling stieß ein tiefes, unzufriedenes Brummen aus, das sie erzittern ließ, dann drückte sich kalter Stahl in das Fleisch an ihrem Hals. Entsetzt verharrte sie in ihrer Bewegung und wagte kaum zu atmen. Die Kälte der Klinge fraß sich durch ihren ganzen Körper. Haltsuchend krallte sie ihre Finger in ihren Mantel und versuchte zurückzuweichen. Dann verharrte sie reglos wie ein Reh im Angesicht des Todes und starrte in das Gesicht, das sich nur wenige Handbreit vor ihrem befand.
Der Mann trug einen Mantel, die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Stoff verdeckte seine untere Gesichtshälfte, nur die Augen waren zu sehen. Sie waren dunkel, fast schwarz, und blitzten wie Onyx.
Ein Zittern ergriff ihren Körper. Panik schwoll in ihrer Brust an und drohte, sie zu überrollen. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und die Hand auf ihrem Mund verbesserte die Situation nicht. Ihr wurde schwindelig und sie wusste, dass sie nur einen winzigen Schritt vor dem Abgrund stand. »Frauenleiden« oder »Hysterie« hatten die Ärzte diese Anfälle genannt, die sie seit dem Tod ihrer Mutter überkamen.
Etwas Weißes blitzte im Dunkeln der Kutsche auf und zog ihren Blick auf sich. Sie weitete die Augen, als auf der samtenen Bank ihr gegenüber eine Lilie ihre Knospen öffnete. Sie war schneeweiß und schimmerte leicht. Normalerweise wäre Liliana spätestens jetzt den Abgrund hinuntergestürzt, doch von der Blume, die nicht existieren durfte, ging etwas seltsam Beruhigendes aus und ihr Atem verlangsamte sich augenblicklich.
Erneut ertönte ein kehliges Geräusch und die Klinge grub sich tiefer in ihr Fleisch, zwang ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Fremden und schickte ihr eine eindeutige Botschaft. Am liebsten hätte sie geweint, doch selbst ihre Tränen versteckten sich aus Angst. Sie wollte nicht sterben.
Stille umfing sie und nur ihre gepressten Atemzüge waren in der Kutsche zu hören. Angespannt wartete sie auf seinen nächsten Zug.
Was wollte er von ihr?
Von draußen drangen dumpfe Rufe zu ihnen herein. Dann ein Klopfen an der Tür. »Mylady.«
Collin!
Sie wollte sich aufbäumen, nach Hilfe schreien, doch die Klinge an ihrem Hals hielt sie davon ab. Sie starrte nur weiter in die schwarzen Augen ihres Gegenübers. Wenn sie nicht antwortete, würde der Kutscher die Tür öffnen und er säße in der Falle.
Offenbar ahnte das auch ihr Angreifer, denn er verstärkte den Griff um das Heft des Dolches und lockerte gleichzeitig den Druck auf ihren Mund. Eine unmissverständliche Aufforderung. Und eine Warnung. Dann verschwand seine Hand und sie rang keuchend nach Luft.
»Mylady, ich öffne jetzt die Tür.«
»W-warte!«, presste sie hervor.
Stille.
»Alles in Ordnung?«
Liliana versuchte, ihre zitternde Stimme unter Kontrolle zu bekommen. »Ja, alles in Ordnung. Lass uns weiterfahren.«
Stille. Quälend langsam verstrichen die Sekunden. Die Anspannung in der Kutsche war beinahe greifbar. Wenn Collin die Tür jetzt öffnete, wäre das ihr Todesurteil. Sie würde sterben, durch einen sauberen Schnitt an der Kehle.
»Wie Ihr wünscht, Mylady.«
Liliana hätte am liebsten vor Erleichterung geseufzt, doch sie presste die Lippen fest aufeinander.
Die Kutsche erzitterte unter dem Gewicht des Kutschers, dann knallte eine Peitsche und sie setzten sich mit einem Ruck in Bewegung, der ihren Hals ins Messer trieb. Erschrocken kniff sie die Augen zusammen, doch der erwartete Schmerz blieb aus. Stattdessen packte der Fremde sie an den Schultern und fing sie auf.
Verblüfft blinzelte sie. Der Dolch war von ihrer Kehle verschwunden und ihr Angreifer hatte sie vor dem Fallen bewahrt.
»W…«
Bevor sie etwas sagen oder fragen konnte, war die Klinge an ihren Hals zurückgekehrt. Liliana sog scharf die Luft ein, verstummte aber.
Die Kutsche holperte über das unebene Pflaster und sie beobachtete den Mann ihr gegenüber. Er hatte den Kopf schräg gelegt, als würde er lauschen, und sie sah nur sein im Schatten liegendes Profil.
War er für den Tumult auf dem Marktplatz verantwortlich? Dann wurde er mit Sicherheit überall von den Soldaten gesucht. Er hatte keine Chance zu entkommen und doch strahlte er eine selbstsichere Ruhe aus.
Die Zeit verstrich mit dem steten Hufgeklapper der Pferde. Bis zum Rathaus war es nicht mehr weit.
Ohne Vorwarnung setzte der Fremde sich in Bewegung und Liliana zuckte zusammen. Ehe sie die neue Situation erfasste, verschwand das kühle Metall von ihrem Hals. Ihr Angreifer ließ den Dolch behände zwischen den Fingern kreisen und in einem Futteral unter seinem Mantel verschwinden. Dann stieß er ohne ein Wort die Tür der Kutsche auf, sprang aus dem fahrenden Gefährt und verschwand so schnell, wie er gekommen war, in den Schatten einer Gasse.
Ihr Herz raste und sie hatte das Gefühl, aus jeder Pore ihres Körpers zu schwitzen. Ihre Hände tasteten über den schwarzen Samtstoff, doch die Lilie war verschwunden. Hatte sie sich die Blume in ihrer Panik nur eingebildet?
»Mylady!«
Collins Stimme drang zu ihr durch und sie hob blinzelnd den Kopf. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass die Kutsche angehalten und er die Tür geöffnet hatte.
»Mylady! Seid Ihr verletzt? Geht es euch gut?« Der alte Kutscher beugte sich zu ihr und sah sie mit sorgenvoller Miene an.
Ihr wurde schlagartig bewusst, was für ein Bild sie abgeben musste. Fahrig fuhr sie sich durch das schweißnasse Haar und versuchte sich an einem krampfhaften Lächeln. Hinter Collin hastete ein Trupp Soldaten vorbei und erst jetzt nahm sie ihre Umgebung wahr.
»Collin, was ist passiert?«, fragte sie den alten Kutscher und ließ sich von ihm aufhelfen. Bevor sie ausstieg, stopfte sie schnell den zerknüllten Brief in ihre Manteltasche, der auf den Boden gefallen war. Dann trat sie hinaus und weitete ihre Augen bei dem Anblick, der sich ihr bot.
Sie standen vor dem Eingang zum Rathaus. Doch das imposante Gebäude, dessen Giebel mit goldenen Statuen verziert waren, rückte vor der Kulisse des Schreckens in den Hintergrund. Auf dem abgetretenen Pflaster hatte man schmutzige Tücher ausgebreitet, unter denen schwarze Stiefel hervorlugten. An den silbernen Zehenkappen erkannte sie, dass es sich um Soldaten ihres Vaters handelte. Sie waren tot.
»Sucht in jeder Gasse und in jedem Winkel. Wenn es sein muss, stellt ihr die gesamte Stadt auf dem Kopf! Findet diese elenden Ratten!«
»Jawohl, Sir!«
Liliana fuhr herum und sie erkannte Eric Wolton, den Unteroffizier ihres Vaters. Eine Gruppe Soldaten salutierte, die Faust auf Höhe ihres Herzens, dann eilten die Männer davon. Ihre Gesichter von entschlossener Grimmigkeit gezeichnet.
Eric wandte sich um und ihre Blicke kreuzten sich. Er wurde blass und kam auf sie zugeeilt. Mit einer leichten Verbeugung blieb er vor ihr stehen.
»Mylady, ich bitte Euch. Dies ist wahrlich kein Ort für eine Dame. Bitte zieht Euch auf Euren Landsitz zurück, bis sich die Lage beruhigt hat.«
»Sir Wolton, was ist hier geschehen?«
»Die Rebellen, Mylady, sie haben versucht, Eurem Vater zu schaden.«
Liliana wich jegliche Farbe aus dem Gesicht. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »M-mein Vater, geht es ihm gut?«
»Seid unbesorgt, Mylady, Euer Vater ist wohlauf.«
Erleichtert presste sie sich die Hand auf die Brust und atmete mehrfach tief ein und aus.
»Ich muss ihn sehen«, sagte sie, ungeachtet seiner Einwände, und drehte sich zum Eingang um.
»Mylady, ich bitte Euch. Wartet zu Hause, bis Euer Vater heimkehrt.«
Ohne ihn zu beachten, raffte Liliana ihren Rock und eilte durch die geöffnete Flügeltür des Rathauses.
»Mylady …«
Sie wurde von der Kühle des Gemäuers umschlossen und blieb abrupt stehen. Dunkelrote Schlieren zogen sich über den schwarz-weiß gekachelten Marmorboden. Ein Dutzend Soldaten saßen oder lagen auf dem Boden. Ihre Verbände waren blutgetränkt. Von den kahlen Wänden hallte das gequälte Keuchen und Stöhnen der Verwundeten wider. Ein metallischer Geschmack legte sich auf Lilianas Zunge und sie bemühte sich, einen Würgereiz zu unterdrücken.
Fahrig fischte sie ihr Tuch aus der Tasche und presste es sich auf die Nase. Dann hastete sie weiter, die gegenüberliegende, abgetretene Steintreppe hinauf und durch einen dunkel getäfelten Korridor. Der metallische Geruch verfolgte sie und der Angreifer aus der Kutsche kam ihr wieder in den Sinn. Er war ohne Zweifel einer der Rebellen. Wie viele dieser Soldaten hatte er auf dem Gewissen?
Sie erschauderte. Sie hatte einem Mörder gegenübergesessen. Einem Mann ohne Gewissen, der sie ohne Zweifel getötet hätte, hätte er gewusst, wer sie war. Die Tochter des Schatzmeisters des Königs. Desjenigen, der für all die unschuldigen Toten vor neun Jahren verantwortlich war.
Tränen brannten hinter ihren Lidern, doch sie blinzelte sie fort. Sie hatte keine Zeit, sich ihren Gefühlen zu ergeben. Sie musste wissen, ob das, was in dem Brief stand, wahr war. Und sie musste mit eigenen Augen sehen, dass er wohlauf war. Er war ihr Vater. Selbst wenn er es getan hatte, selbst all die Jahre missachtend, in denen er sie kaum beachtet und sich dem Alkohol hingegeben hatte. Ungeachtet all dessen war er noch immer ihr Vater. Der Mann, der ihr die Sternbilder am Himmel erklärt hatte. Der Mann, der ihr heimlich ihre Lieblingszitronentörtchen zugesteckt hatte. Der Mann, der …
Sie blieb vor einer großen, doppelflügeligen Tür stehen, die von einem Dutzend Soldaten flankiert wurde, die ihr den Weg versperrten. Sie fixierten Liliana, die Mienen grimmig verzogen.
»Lasst mich durch. Ich möchte zu meinem Vater.«
Ein junger Soldat in der vorderen Reihe ergriff das Wort. »Es tut mir leid, Mylady. Aber wir haben die Anweisung, niemanden hineinzulassen.«
»Aber ich muss zu meinem Vater.«
»Mylady, wir haben unsere Befehle.«
Sie starrten einander eine Weile an, doch seine Miene blieb starr wie Stein. Unschlüssig stand Liliana da und krallte die Finger in ihren Rock. Sie hatte es satt, so behandelt zu werden. Wäre sie ihres Vaters Sohn, müsste sie diese Unterhaltung nicht führen.
Hinter den Soldaten wurde einer der Türflügel aufgestoßen und die Stimme ihres Vaters polterte zu ihnen heraus. »Ihr Taugenichtse! Wie konnten die Rebellen …«
Sir Wilhelm stand im Rahmen und sah sie überrascht an. Hastig schloss er die Tür hinter sich und Liliana konnte nicht weiter hören, was ihr Vater sagte.
»Sir Wilhelm, ich möchte …«
»Mylady, kommt.« Er unterbrach sie abrupt, nahm sie am Ellenbogen und zog sie von der Tür fort.
Zu überrascht von seiner Reaktion, als dass sie sich darüber erzürnte, ließ sie sich mitschleifen. Sir Wilhelm war der Hauptmann der Soldaten ihres Vaters. Nie hatte er es gewagt, sie zu unterbrechen, geschweige denn ungefragt mit sich zu zerren.
»Sir Wilhelm, ist etwas mit meinem Vater? Nun sagt schon!«
Er zog sie weiter mit sich, doch schüttelte zu ihrer Erleichterung den Kopf. Am Ende des schummrigen Gangs blieb er schließlich stehen und versperrte ihr die Sicht auf das Arbeitszimmer ihres Vaters.
»Mylady, bitte wartet einen Moment hier«, sagte er mit ernster Miene. »Ich möchte nicht, dass … Ihr diesen Anblick ertragen müsst.«
Bei seinen Worten verkrampfte sich ihr Herz. Was war geschehen?
Sie schloss ihre Finger um das Papierknäuel in ihrer Manteltasche. Dem Brief hatte ein weiterer Zettel mit einer eindeutigen Botschaft beigelegen. Denn er war von einem Pfeil mit schwarzen Federn durchstoßen überbracht worden.
»Der nächste Pfeil trifft sein Ziel.«
Ihr wurde übel und erneut rann ihr kalter Schweiß über die Stirn.
Das Quietschen der Türflügel und das Echo schwerer Stiefel holte sie aus ihren Gedanken. Bevor Sir Wilhelm sie davon abhalten konnte, spähte sie an ihm vorbei. Ein spitzer Schrei entfuhr ihren Lippen und sie wünschte, sie hätte auf den Hauptmann gehört.
Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper und sie hatte das Gefühl, jeden Moment ihren Mageninhalt zu verlieren.
Vier Soldaten brachten eine Trage aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Der Körper eines älteren Mannes lag darauf, ein Arm baumelte kraftlos an der Seite hinab und ein mit schwarzen Federn bestückter Pfeil ragte aus seiner Brust. Ein schmales Rinnsal Blut klebte ihm getrocknet im erschlafften Mundwinkel.
Liliana erkannte ihn. Es war Lupin, der Sekretär ihres Vaters. Und der Pfeil, der für ihren Vater bestimmt war, steckte nun in seiner Brust. Er hatte sein Ziel verfehlt.
Ihr Blickfeld verschwamm und sie schwankte leicht. Sir Wilhelm stützte sie, bevor sie auf den harten Marmorboden stürzte. Schwer atmend blinzelte sie, um klare Sicht zu erlangen. Das Blut rauschte in ihren Ohren und ihr Atem hallte laut von den kahlen Wänden wider.
Langsam hob sie den Blick und richtete sich mit Hilfe des Hauptmanns auf. Die Trage war verschwunden und nur das Dutzend Wachen blieb zurück.
»Ich möchte zu meinem Vater«, wisperte sie. Alle Kraft hatte ihre Stimme verlassen.
Sir Wilhelm nickte zu ihrer Erleichterung, hatte die Lippen aber zu einem grimmigen Strich gepresst. Er geleitete sie zur Tür und die Soldaten traten mit einer leichten Verbeugung zur Seite.
Als sie in das Arbeitszimmer ihres Vaters schritt, bemühte sie sich um ein aufrichtiges Lächeln und hoffte, dass sie nicht allzu blass aussah. Doch ihr Herz fühlte sich an wie in kleine Stücke gehauen. Der Angreifer, der sie in der Kutsche überrascht hatte, den sie fliehen lassen hatte, war für all das hier verantwortlich.
Sie biss die Zähne kräftig zusammen, um das Brennen in ihren Augen zu vertreiben.
Sie hatte einen Mörder entkommen lassen.