* Für alle Fans von düsterer Fantasy, Gestaltwandlern und starken Kriegerinnen *
Fangs of Iron ist ein von Prinzessin Mononoke inspirierter, abgeschlossener Romantasy-Einzelband rund um Marella, Wyatt und Geheimnissen die lieber verborgen geblieben wären.


Inhalt
Eine Kriegerin mit dem Herz einer Wölfin, gefangen zwischen Familie und Liebe.
Doch was erwartet sie am Ende ihres Weges – Rache oder Ehre?
Aufgewachsen als einziger Mensch in einem Rudel Wolfswandler, hat Marella nur ein Ziel: Eine würdige Kriegerin sein und ihre Stärke beweisen. Ihr Traum ist zum Greifen nah, doch als in einer verhängnisvollen Nacht ein Krieger mit Wolfsmaske ihr Rudel angreift, sieht sich Marella gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Mit Wyatt, ihrem besten Freund seit Kindertagen, an ihrer Seite, macht sie sich auf, um Rache an den Menschen zu nehmen und ihre Familie zu beschützen. Wyatt, der stets an ihrer Seite war und der plötzlich ungeahnte Gefühle in ihr weckt.
Doch je tiefer sie sich auf ihrer Reise in der Vergangenheit verlieren, desto schwerer fällt es Marella, die Menschen nur als Ungeheuer zu sehen. Und derweil lauert eine Bestie im Schatten, die alles zu vernichten droht, wofür ihr Kriegerherz schlägt …
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Details
- Genre: Romantische Fantasy/ Dark Fantasy
- Altersempfehlung: Ab 14 Jahren
- Seiten: 510
- ET: 03.11.2024
- ISBN: 979-8344752792
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Prolog
Vierzehn Jahre zuvor
Schnee wehte Marella ins Gesicht, biss in ihre Haut und stach ihr in die Augen. Durch das Gestöber nahm sie die Bäume, an denen sie vorbeieilten, nur als verzerrte Schemen wahr. Fest an die Brust ihrer Mutter gedrückt, wurde sie vor dem Schlimmsten abgeschirmt und sie kuschelte sich enger an sie. Sie schloss die Augen, sog ihren Duft nach Ringelblumen ein und lauschte ihrem hektischen Atem und dem Heulen des Windes, der sie umtoste.
Marella wusste nicht, warum sie in dieser eisigen Kälte durch den Wald rannten, anstatt in ihrem weichen, gemütlichen Bett zu liegen. Vor wenigen Stunden war ihr Vater nach Hause gekommen. Er hatte ihre Stube betreten und sich nicht wie sonst den Schnee von der Kleidung gefegt und sich am Feuer gewärmt. Er hatte sie nicht wie sonst freudestrahlend in seine Arme gezogen und in die Höhe geworfen, nur um sie dann wieder zu fangen. Und sie hatten nicht später am Abend gemeinsam vor dem warmen Kaminfeuer gesessen, wo sie den Geschichten ihrer Mutter lauschten. Nein, er war nach Hause gekommen, hatte die Stube betreten und dann hatte er einfach nur dagestanden. Er hatte sie stumm angestarrt, während der Schnee auf seinen Schultern langsam schmolz und sich um seine Stiefel eine Pfütze bildete. Er hatte keinen Laut von sich gegeben, selbst dann nicht, als sie sich in seine Arme geworfen hatte. Und er hatte nicht gelächelt. Sie hatte sich in ihr Bett zurückgezogen und darüber gegrübelt, was sie falsch gemacht hatte, um ihren Vater so zu erzürnen. Unter der Bettdecke verkrochen, hatte sie ihren Eltern gelauscht, wie sie leise miteinander geflüstert hatten. Dann hatte ihre Mutter angefangen zu weinen und Marella hatte das schreckliche Gefühl gehabt, es war ihre Schuld. Irgendetwas musste sie falsch gemacht haben. Aber was?
Ein schwacher Lichtschein zwischen den Bäumen erregte ihre Aufmerksamkeit und sie lugte über die Schulter ihrer Mutter. Der Wind peitschte ihr in den Nacken und sie zog die Kapuze ihres Mäntelchens tiefer in ihre Stirn. Er war neu. Ein leuchtendes Rot. Ihr Vater hatte ihn mitgebracht. Ein Geschenk, und doch hatte er nicht gelächelt, als er ihn ihr angezogen hatte.
Fahrig schob sie den Stoff wieder nach hinten, um den Ursprung der Lichtquelle auszumachen. Mittlerweile hatten sich weitere hinzugesellt und es sah aus, als würden Leuchtkäfer im Schneesturm tanzen.
»Mama, sieh nur. Leuchtkäfer!«, rief sie über das Tosen des Sturms hinweg und zupfte aufgeregt an deren Mantel.
Der Kopf ihrer Mutter fuhr herum und ein entsetztes Keuchen entwich ihren Lippen, das Marella sich nicht erklären konnte. Dann beschleunigte sie ihre Schritte, stolperte mit ihr im Arm vorwärts und Marella spürte das Zittern ihres Körpers.
»Mama?«, flüsterte sie. »Was ist denn los?«
Keine Antwort.
»Mama? Ich will nach Hause.« Ihre Stimme bebte leicht, während sich aufsteigende Angst um ihr Herz schloss.
Ihre Mutter schluchzte auf und das Zittern nahm zu. Marella suchte ihren Blick, doch sie wurde fest an ihre Brust gedrückt. Ihre Arme lagen wie ein Schraubstock um ihren kleinen Körper und sie spürte nur das Hämmern ihres ängstlichen Herzens.
Marella wurde von einem heftigen Schluchzen geschüttelt und dicke heiße Tränen hinterließen Spuren auf ihren kalten Wangen.
»Mama, ich habe Angst. Bitte, ich will heim.«
»Ich weiß, meine Kleine. Ich weiß«, erwiderte sie mit ebenso zitternder Stimme und strich ihr über den Rücken. »Wir können nicht nach Hause. Es tut mir leid.«
»W-wo ist Papa?«
Etwas Schwarzes schoss durch den Wald auf sie zu, nur einen Wimpernschlag lang. Plötzlich fuhr ein Ruck durch den Körper ihrer Mutter. Sie stolperte und unter einem lauten Ächzen fielen sie zu Boden. Marella wurde aus ihren Armen geschleudert und kugelte über den zugeschneiten Waldboden, bis sie ein paar Schritte weiter zum Liegen kam.
Keuchend hob sie den Kopf, wischte sich den Schnee aus den Augen und versuchte, sich zu orientieren. Ihre Mutter lag reglos da, mit dem Gesicht nach unten, mehrere Armlängen von ihr entfernt.
»M-Mama?«
Keine Antwort.
»Mama?«
Dann sah sie den Pfeil, der aus ihrem Rücken ragte.
»Mama! Mama!«, schrie sie laut, doch der tosende Wind riss ihr die Stimme von den Lippen und verschluckte jedes Geräusch. Weinend robbte sie durch den Schnee auf ihre Mutter zu. Sie hatte das Gefühl zu ersticken.
»Mama, bitte. Mama, wach auf!« Sie rüttelte an ihrer Schulter.
Doch sie rührte sich nicht.
Die Lichter kamen näher. Aus Leuchtkäfern wurden lodernde Fackeln, deren Flammen wild im Sturm zuckten.
Flehend sah sie ihnen entgegen. »Bitte helft uns. Meine Mama …«
Ein lautes Knurren ließ sie auffahren und sie sah nur noch, wie ein riesiger grauer Schatten über sie hinwegsprang. Schreie hallten durch den Wald und übertönten den tobenden Sturm. Ein monströser Wolf biss und kratzte sich durch die Menschen, die sich ihnen genähert hatten.
Panisch zerrte Marella an der Kleidung ihrer Mutter, versuchte sie mit sich zu ziehen, irgendwohin, wo sie Schutz vor diesem Monster suchen konnten. Mit Entsetzen sah sie, wie Fackel um Fackel erlosch und damit auch jegliche Hilfe für ihre Mutter. »N-nein«, flehte sie, doch es blieb ungehört, während ihre letzte Hoffnung schwand. Sie schmiegte sich eng an den leblosen Körper ihrer Mutter, vergrub ihr Gesicht schutzsuchend in ihrer Kleidung und kniff die Augen fest zusammen, als könne sie sich damit unsichtbar machen.
Die Schreie wurden leiser und schließlich verklangen sie. Trotz des tosenden Windes hatte sich eine bedrückende Stille über den Wald gelegt. Marella wartete zitternd darauf, dass der Wolf auch sie holen würde, doch nichts rührte sich.
Nach einer Weile richtete sie sich langsam auf und spähte vorsichtig in die monderhellte Dunkelheit. Von dem riesigen Wolf fehlte jede Spur und langsam wie die Schneeflocken, die um sie herum zu Boden fielen, rieselten Schrecken und Erkenntnis des eben Geschehenen in ihren Verstand. Sie sah all das Rot in dem unschuldigen Weiß um sie herum. Doch zugleich sah sie nur ihre Mutter. Ihre Haare zwischen Marellas kleinen Fingern, wie sie es zum Einschlafen immer tat. Doch sie rührte sich nicht. Gab ihr keinen Kuss auf die Wange, lächelte sie nicht an und die Wärme ihrer Umarmung blieb ebenfalls aus.
Obwohl der Sturm um sie wütete, war es still. Eine schmerzhafte, lautlose und alles verschlingende Stille.
Kapitel 1
Heute
Sie jagte durch den Wald, Wyatt war ihr dicht auf den Fersen. Der große weiße Wolf sprang behände über die ausladenden Wurzeln und das Astwerk, über das sie mühsam hinwegklettern musste. Äste peitschten ihr schmerzhaft ins Gesicht und zerrten an ihrer Fellhose, doch sie verlangsamte ihr Tempo nicht.
Eine dicht stehende Gruppe Kiefern ragte vor ihnen auf und sie schlüpfte geradewegs zwischen den Stämmen hindurch. Mit einem Blick über die Schulter sah sie mit Genugtuung, wie Wyatt zurückblieb und die Bäume umrunden musste. Über die Jahre hatte sie jede seiner Schwächen verinnerlicht und nutzte sie nur zu gern zu ihrem Vorteil.
Noch immer breit grinsend richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn. Die Nadelbäume lichteten sich und gaben den Blick auf einen Abhang frei, an dessen Fuße sich ein Bach durch die Wiesen schlängelte. Ohne innezuhalten, sprang und schlitterte sie diesen hinab. Dabei verfing sich ihr Haar an einem der Äste und sie ließ eine Strähne schmerzhaft hinter sich.
Sie biss die Zähne zusammen, doch sie schaute weder zurück, noch hielt sie inne. Laub stob auf, dann stieß sie sich von einem hervorragenden Felsvorsprung ab. Sie segelte durch die Luft und über das gemächlich plätschernde Wasser unter ihr hinweg.
Ein Jauchzen entglitt ihren Lippen und sie reckte ihr Gesicht den goldenen Strahlen der Sonne entgegen. Plötzlich schob sich ein Schatten in ihr Blickfeld. Wyatts massiger Körper war neben ihr aufgetaucht und versperrte ihr den Blick auf den Himmel.
Im nächsten Moment landeten sie gleichzeitig auf der anderen Uferseite. Marella geriet ins Straucheln und rollte sich ab, dann blieb sie schwer schnaufend und mit ausgebreiteten Armen im kniehohen Gras liegen. Sie drehte den Kopf leicht und beobachtete, wie der Wolf anmutig auf sie zuschritt. Er hatte die Lefzen zu einem Hecheln verzogen und doch wirkte er, als habe er soeben nur einen kleinen Waldspaziergang hinter sich gebracht.
»Ich habe gewonnen«, keuchte sie und richtete sich auf die Ellenbogen auf, wobei die Gräser in ihren Nacken piekten.
Ein leises Lachen erklang in ihrem Kopf, gefolgt von einer tiefen Stimme: »Das glaubst aber auch nur du, Floh.«
Floh. So nannte Wyatt sie, seit sie ihn vor vierzehn Jahren kennengelernt hatte. Weil sie so klein und vor allem so lästig war wie die winzigen Tierchen, hatte er ihr feixend erklärt, als sie ihn einmal danach gefragt hatte.
Wütend sah sie zu ihm auf, hievte sich hoch und klopfte sich das leblose Herbstgras von der Hose.
»Du bist ja auch so groß wie ein Pferd. Wenn man mal von diesem Vorteil absieht, hatte ich einen gewaltigen Vorsprung.«
Wyatt sah sie mit gespitzten Ohren aufmerksam an, dann trottete er kommentarlos an ihr vorbei und ließ sich im Schatten einer großen Trauerweide nieder, die verlassen am Rand der Lichtung stand. Ihre langen Äste schaukelten und raschelten in einer leichten Brise und goldene Lichtfunken tanzten auf Wyatts weißem Fell.
Marella folgte ihm. Im Gehen rupfte sie einen der Stängel ab, ließ sich neben ihn fallen und schmiegte sich an seine Flanke. Dann fuhr sie ihm mit der Hand durch das weiche Fell und ein wohliges Brummen hallte durch seinen massigen Körper.
Wyatt legte den großen Kopf auf die Vorderpfoten und sie folgte seinem Blick in die Weite, während sie begann, die Blätter von dem Weidestängel zu zupfen. Von hier oben hatte man einen unbeschreiblichen Ausblick über das Tal unter ihnen. Auf den Wiesen, deren Gräser vom Wind durchkämmt wurden, grasten seelenruhig ein paar Rehe, nichtsahnend, welcher Jäger sie in eben jenem Moment beobachtete. Ein Vogelschwarm erhob sich aus einer bunten Baumgruppierung und ein Adler zog seine Kreise weit oben in der Luft und hielt nach potenzieller Beute Ausschau. Zwischen ein paar vereinzelten Bäumen glitzerte der schmale Lauf eines breiten Gewässers, das sich durch das ganze Tal zog.
Ihr Blick folgte dem dichten bunten Wald am anderen Ende des Tals, der sich den zerklüfteten Hügel hinaufschlängelte. Marella hatte den Herbst schon immer geliebt, er verlieh der Welt etwas Unwirkliches, geradezu Magisches.
»Ich kann nicht glauben, dass es morgen schon so weit ist«, brummte Wyatts Stimme in ihrem Kopf. »Ich habe das Gefühl, es war erst gestern, als wir dich im Schnee fanden.«
Sie hielt in ihrer Bewegung inne und ihre Hand fuhr zu ihrem Hals, wo an einem Lederband ein hölzerner, geschnitzter Hirschkopf hing. Das Einzige, was ihr von ihrer Menschenmutter geblieben war. Manchmal träumte sie nachts von den letzten Minuten in ihren Armen. Ein Traum, aus dem sie jedes Mal schweißgebadet hochschreckte. Mehr Erinnerungen blieben ihr nicht von ihr. Das Leben, das sie vorher geführt hatte, war wie ausgelöscht. Vielleicht lag es daran, dass sie erst vier Jahre alt gewesen war. Doch das Nächste, an das sie sich erinnerte, war das weiche Fell ihrer Wolfsmutter. Sie hatte an ihren Bauch gekuschelt gelegen, eingewickelt in einen roten Mantel, die Halskette fest in ihrer Hand und ein weißes Wolfsjunges an ihren Rücken geschmiegt.
»War es nicht erst gestern, als ich dir das Leben versaut habe?«, feixte sie zurück und knuffte ihn in die Seite. »Ich weiß noch ganz genau, wie du rumgeheult hast, als Mutter verkündet hat, dass ich bei euch bleibe. Du meintest, dass so ein kleines dürres Mädchen wie ich nie ein Wolf werden könnte.«
»Ich muss zugeben, ich habe mich geirrt«, brummelte er, ein Schmunzeln in der Stimme. »Du bist der böseste Wolf, den ich kenne.«
Sie boxte ihn erneut in die Seite und er winselte leise.
»Nein, ich meine es ernst.« Seine Stimme verlor den Schalk. »Du bist unheimlich mutig und stark. Du bist eine echte Wölfin, Floh.«
»Danke«, flüsterte sie und kraulte ihn erneut. »Ich hoffe, das sehen die anderen morgen ebenfalls.«
»Das werden sie. Ansonsten sind sie nicht nur blind, sondern auch noch dumm.«
Marella lachte, dann legte sie ihre Wange an seine Seite, schloss die Augen und lauschte seinen gleichmäßigen Atemzügen. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie an ihre gemeinsame Zeit zurückdachte. Sie hatten einander abgrundtief gehasst. Wyatt war eifersüchtig gewesen, dass er seine Mutter plötzlich mit einem Wicht wie ihr teilen musste. Einem Wicht, der dünn und zerbrechlich war, der das Fleisch, das ihm vorgesetzt wurde, verschmähte und nicht einmal in die Nacht heulen konnte. Sie war ein Floh für ihn gewesen. Ein lästiger, juckender Floh. Und doch hatten sie sich aneinander gewöhnt, einander lieben gelernt. Sie hatten gegeneinander gekämpft, zusammen gejagt, sich auf der Spitze des höchsten Berges angebrüllt und gemeinsam den Mond angeheult. Sie waren nicht nur eine Familie, sie waren beste Freunde. Hätten sie einander anfangs am liebsten umgebracht, würden sie jetzt für den anderen in den Tod gehen.
»Bist du aufgeregt? Wegen morgen, meine ich?« Wyatts Stimme holte sie zurück in die Gegenwart und sie sah zu, wie die Sonne langsam hinter den Baumwipfeln auf der gegenüberliegenden Talseite unterging und alles in orangenes Licht tauchte.
»Ein bisschen«, gab sie flüsternd zu. Morgen fand die monatliche Wolfsnacht statt und sie war das erste Mal dabei. Jeder Wolfwandler, der achtzehn Jahre alt war, durfte teilnehmen. Es war die endgültige Aufnahme ins Rudel, die Abkopplung vom Muttertier und das Finden des eigenen Platzes in der Gruppe. Vor wenigen Tagen hatte sie Geburtstag gehabt und nun würde sie sich beweisen müssen. Sie musste sich als würdig erweisen, einen Platz in den Reihen der Wölfe innezuhaben. Dafür hatte sie die letzten Jahre täglich trainiert. Dafür war sie zu einem echten Wolf geworden.
»Darryn hat einen Blick auf dich geworfen«, sagte Wyatt unvermittelt. »Ich weiß zwar echt nicht, was er an einem Floh wie dir findet, aber …« Sein gehässiger Kommentar wurde von einem schmerzhaften Jaulen erstickt.
Er zog die Lefzen zurück und knurrte sie wütend an.
Marella schnippte ein weißes Fellbüschel in das Gras neben ihr, dann erwiderte sie sein Drohgebaren. »Halt die Klappe, Milchnase.«
Wyatt knurrte erneut, dann entspannte er sich wieder und legte den riesigen Kopf auf seine Pfoten. Seine blauen Augen musterten sie. Milchnase. Lange hatte sie nach einem passenden Namen als Konter gesucht. Und als sie von den anderen Wölfen erfuhr, dass er weit über das Welpenalter hinaus von seiner Mutter in den Schlaf gestillt werden wollte, hatte er ihr die perfekte Steilvorlage geliefert. Seitdem war er Milchnase. Doch es war wie mit Floh – waren sie sich einst nur bei der Erwähnung des Spitznamens an die Kehle gegangen, war es jetzt eher neckender und liebevoller Natur.
»Ich meine es ja nur gut. Sei einfach vorsichtig, ja?«, brummelte er, dann schloss er die Augen.
Marella legte ihre Wange wieder an seine weiche Flanke und kuschelte sich in seine Wärme, die sie vor der kühlen Abendluft abschirmte. Sie wusste, dass er sich nur Sorgen machte. Die Jagd hatte nicht nur den Sinn, den eigenen Platz im Rudel zu finden, sondern galt auch von jeher als Mittel der Partnersuche.
Sie sah hinauf zu der fast runden weißen Scheibe über ihnen, die sich gezeigt hatte, sobald ihre goldene Schwester hinter den Baumwipfeln verschwunden war. Sha’ahn und Sha’achnahn, Zwillingswölfe, die seit Jahrtausenden über den Himmel jagten und sich doch nie erreichten. Eine beherrschte die Nacht und die andere den Tag. Und morgen war es so weit. Sha’ahn, die Göttin des Mondes, erstrahlte in voller Pracht und ihr Licht hatte eine außergewöhnliche Wirkung auf die Wölfe. Es beflügelte sie, euphorisierte sie geradezu. Sie wusste, dass sie sich in Acht nehmen musste, denn auch der Paarungstrieb war in einer Vollmondnacht ausgeprägter. Trotz allem war sie ein Mensch, aber zu ihrem Glück ein ziemlich starker und flinker.
Wyatt dicht auf den Fersen und die wieder aufgehende Sonne im Rücken, kletterte sie unter einer rundgewachsenen Wurzel in den Wolfsbau. Die Höhle war groß und an den Wänden bohrten sich Wurzeln wie dürre, gekrümmte Knochen in das Innere.
Ihre Mutter erhob sich, als sie hereinkamen, und bedachte sie mit einem missbilligenden Blick. »Da seid ihr ja endlich. Was habt ihr die letzten zwei Nächte getrieben? Ich habe mir Sorgen gemacht. Habt ihr überhaupt einmal geschlafen?«, hörte sie ihre tadelnde Stimme in ihren Gedanken. »Husch, husch, bevor ich eure Portion auch noch auffresse.«
Obwohl sie erwachsen waren und durchaus für sich selbst sorgen konnten, behandelte ihre Mutter sie noch immer wie Welpen. Doch statt sich zu beklagen, beeilten sich Marella und Wyatt, in die Mitte der Höhle zu gelangen, wo ein Berg Fleisch aufgeschichtet lag. Anhand der Fell- und Knochenreste musste es sich um einen ausgewachsenen Hirsch gehandelt haben. Sie waren noch die ganze Nacht umhergestreift und hatten ein Kaninchen gejagt, doch nun lief ihr erneut das Wasser im Mund zusammen.
Neben dem Kadaver kniend, riss Marella etwas Fleisch heraus und biss gierig hinein. Blut rann zwischen ihren Lippen und Fingern hindurch und tropfte auf den plattgetrampelten Erdboden. Doch es kümmerte sie nicht, stattdessen beeilte sie sich, schnell zu kauen, und beobachtete Wyatt mit zusammengekniffenen Augen dabei, wie viel zu große Brocken in seinem Schlund verschwanden.
»Schling nicht so«, fauchte sie ihn an und zerrte an dem riesigen Stück Fleisch, das zwischen seinen Kiefern herausragte. »Lass mir auch noch was.«
Drohend richtete er sich vor ihr auf, stemmte sich mit seinen Vorderläufen in die Erde und zog knurrend daran. Hin und her ging diese Rangelei, bis aus dem Höhleninneren ein lautes, warnendes Knurren drang.
Wyatt legte die Ohren an und duckte sich. Marella nutzte die Gelegenheit und zog ihm den Fleischklumpen aus dem Maul. Schnell sprintete sie ein paar Schritte von ihm fort und stopfte es sich hastig zwischen die Zähne.
Als sie fertig war, leckte sie ihre Finger sauber. Dann krabbelte sie in den hinteren Teil der Höhle, wo es sich ihre Mutter schon auf ein paar Fellen gemütlich gemacht hatte. Sie kuschelte sich an ihre graue Flanke und atmete ihren Duft nach Erde und nassem Wolf ein. Es war der Geruch nach Wärme und Geborgenheit. Der Geruch nach zu Hause.
Wyatt gesellte sich zu ihnen und legte sich mit dem Rücken an ihren. Ihre Mutter leckte erst Wyatt und dann ihr über das blutverschmierte Gesicht, bis sie sauber waren.
»Schlaft jetzt, meine lieben Kleinen. Morgen ist ein großer Tag«, hauchte sie liebevoll in ihren Gedanken. Dann legte sie den Kopf auf ihre Pfoten und Marella kuschelte sich tiefer in ihr Fell. Sie war kein Welpe mehr, sie war eine Frau, eine ausgewachsene Wölfin, und doch war sie für ihre Mutter noch immer ihre Kleine.
Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, nicht daran zu denken, dass ab morgen alles anders sein würde.