
Inhalt
* Für alle Fans von Daughter of the Pirate King, Fable und Filmen wie Fluch der Karibik *
Seit Jahren verdient sich Scarlet ihren Lebensunterhalt in einem Freudenhaus auf Tortuga, indem sie ihren Gästen mit Geigenmusik Sehnsüchte und Träume von Abenteuern und Freiheit in die Köpfe zaubert. Dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher, als an der Seite ihres Vaters, dem berüchtigten Piratenkapitän Blackbeard, selbst in See zu stechen.
Als sie erfährt, dass ihr Vater von den Engländern gefangen genommen wurde, verkleidet sie sich als Schiffsjunge und heuert auf einem Handelsschiff an – fest entschlossen, ihn zu retten.
Was als Befreiungsmission beginnt, wird bald zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Als sie dem kühlen und unnahbaren Commodore Robert Maynard in die Hände fällt, geraten nicht nur ihre Pläne ins Wanken, auch verhängnisvolle Gefühle erwachen in ihr. Doch ihre Tarnung ist in ständiger Gefahr: Als Frau an Bord bricht sie das Gesetz, doch als Piratentochter enttarnt zu werden, würde den Tod bedeuten.
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Kapitel 1
Im Gleichklang mit den Matrosen auf den anderen Schiffen erklomm sie die Wanten und kletterte in den Mastkorb. Mit geschlossenen Augen streckte sie ihre Nase in die Luft, während eine Brise ihr das in der Sonne kupferfarben leuchtende Haar um den Kopf wehte. Fahrig strich sie es fort und breitete die Arme mit einem tiefen Atemzug aus, als gehörte ihr die Welt. Das Meer erstreckte sich glitzernd unter ihr wie ein diamantbestickter blauer Teppich und bis auf das Rauschen der an den Strand brandenden Wellen und das Schreien der Möwen war nichts zu hören. Hier oben konnte sie für einen klitzekleinen Moment so tun, als wäre das hier ihr Leben, als wäre sie … frei. Frei, zu tun und zu lassen, was auch immer sie wollte. Als wäre sie eine von ihnen. Nein, nicht ganz. Als wäre sie die größte Piratin aller Zeiten. So wie ihre Mutter.
Sie ließ die Wehmut, die ihr ins Herz zu schneiden drohte, nicht zu und winkte stattdessen den Männern in den Takelagen der ankernden Schiffe lachend zu. Vom Hafen aus war sie so winzig, dass sie sie vermutlich nicht einmal bemerkten, doch das störte Scarlet nicht im Geringsten.
Sie atmete noch ein letztes Mal die salzige Luft ein, die ihr hier oben im Mastkorb schon immer frischer erschien, dann wirbelte sie herum, zückte ihre Pistole und feuerte sie ab. Der Rückstoß vibrierte durch ihren Arm, als eine an einem Ast befestigte Rumflasche zerbarst. Mit einem Kampfschrei sprang sie in die Seile und schwang sich über Deck, während sie die zweite Pistole zückte und eine weitere Flasche auf dem Erdboden in ihre Einzelteile zersprang.
Mit beiden Beinen kam sie hart auf dem Sand auf, ließ ihre nun nutzlose Pistole fallen und griff nach ihrer dritten und letzten. Sie visierte ihr Ziel an, ehe auch diese Flasche nicht mehr fähig war, auch nur einen weitere Tropfen Rum zu halten. Noch bevor die letzten Scherben im trockenen Gras landeten, zückte sie ihr Entermesser und ließ es durch die Luft sausen, wehrte unsichtbare Gegner ab, wirbelte um ihre eigene Achse und setzte dem Baum zu ihrer Linken die Klinge zum tödlichen Stoß an die Rinde.
»Ergib dich«, keuchte sie grimmig lächelnd und verharrte für einen Moment schwer atmend in dieser Position. Ihr Puls kam langsam zur Ruhe und der Moment zerplatzte wie eine aufsteigende Luftblase an der Wasseroberfläche, die sie zurück in die Wirklichkeit katapultierte. Zwischen die Palmen und Bäume, an die sie Seile geknüpft hatte.
Scarlet lockerte ihre Muskeln und trat mit einem schweren Seufzen zurück, ehe sie ihr Entermesser wieder an den Gürtel steckte und ihre im Sand verstreuten Pistolen einsammelte.
Langsam kletterte sie die Wante an der Königspalme hinauf und in ihren schief gezimmerten Mastkorb, um die Pistole zu bergen, die sie dort fallen gelassen hatte. Die Finger fest um den hölzernen Griff geschlossen, sah sie noch einmal hinaus aufs Meer und ließ ihren Blick über den Horizont bis zum Hafen von Tortuga schweifen. Ein Anblick, der mit einem Mal dumpfer wirkte, als hätte er etwas von seiner Farbe verloren.
Mit den Pistolen beladen kletterte sie wieder hinab und schlenderte die Düne entlang zu einem großen Stück ausgeblichenem Treibholz. Vorsichtig reihte sie ihre Schusswaffen nebeneinander auf, dann setzte sie sich auf das raue Holz. Für einen Moment streckte sie die Beine von sich und ließ sich von den Strahlen der Sonne wärmen, die sich gerade in Richtung Horizont neigte.
Wird er heute noch kommen?
Um sich abzulenken, fummelte sie ein abgenutztes Tuch aus ihrer Hosentasche. Sie fluchte, als der zum Zerreißen gespannte Stoff ihren Fingern kaum Platz bot. Ein Wunder, dass er noch nicht gerissen war und jedem einen wunderbaren Blick auf ihren Hintern ermöglichte. Sie hatte die Hose mit sechzehn von ihrem wenigen Geld erstanden und bekam sie nun kaum zu.
Mit einem Ächzen zerrte sie das Tuch hervor und starrte es missmutig an, als hätte es sich mit Absicht an den Stoff gekrallt. Vielleicht war es nach fünf Jahren doch Mal an der Zeit für neue Kleidung.
Seufzend begann sie, die Pistolen sorgfältig zu säubern. Normalerweise hätte sie sie auch gestopft, doch sie hatte eben ihre letzten Kugeln verschossen und nahm sich vor, morgen früh als allererstes in Roys kleinem Laden in der Nähe des Hafens vorbeizuschauen.
In ihrem Kopf fing sie sofort an zu rechnen, wie viel sie am heutigen Abend verdienen musste, um nicht nur Kugeln und Schießpulver, sondern auch Kleidung zu erstehen, und gelangte zu dem ernüchternden Schluss, dass die Hose wohl noch ein paar Wochen oder gar Monate durchhalten musste. Außer ihr Vater kam heute zurück. Dann müsste sie sich darüber keine Gedanken mehr machen und würde das erste Mal seit Jahren dankend seine Münzen annehmen. Zumindest bis sie sie ihm nach ihrem ersten Beutezug zurückzahlte. Sie konnte selbst für sich sorgen, das hatte sie ihrem Vater all die Jahre zur Genüge bewiesen, und sie würde auch weiterhin nicht auf ihn angewiesen sein. Bis auf den Punkt, dass sie ohne ihn nicht von dieser Insel herunterkam. Denn im Gegensatz zu ihm hatte sie kein Schiff.
Während sie mit dem Tuch über den Lauf einer der Pistolen strich, konnte sie nicht verhindern, dass ihr Blick immer wieder erwartungsvoll gen Horizont wanderte. Doch jedes Mal senkte sie ihn enttäuscht auf ihre Arbeit, wenn sie erneut keine weißen, im Orange der untergehenden Sonne aufleuchtenden Segel erblickte.
Eine Brise strich über Scarlet hinweg und ließ sie frösteln. Sie hielt in ihrer Arbeit inne, hob den Kopf und starrte auf die grauen Wolken, die sich in den letzten Stunden vom Land her immer mehr verdichtet hatten und sich bedrohlich über ihr auftürmten.
Verdammt. Sie hatte zu lange gewartet, doch die Sorge, die Ankunft ihres Vaters zu verpassen, hatte sie zögern lassen. Jetzt würde sie es nicht mehr rechtzeitig zurückschaffen.
Wie zur Bestätigung ihrer Gedanken grollte es in der Ferne und sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, als eine kleine Welle der Angst über sie schwappte und ihre Muskeln versteifte.
Wütend schüttelte sie den Kopf, um sie zu vertreiben. Nein, sie hatte sicherlich keine Angst, nicht vor so einem mickrigen Regenguss.
Eilig verstaute sie ihre Pistolen am Gürtel, dann kämpfte sie sich die Düne hinauf. Der Sand wich langsam vertrocknetem Gras, was ihren zerschlissenen Schuhen mehr Halt bot. Durch die Löcher im Stoff rieselte Sand und rieb bei jedem Schritt unangenehm zwischen ihren Zehen. Noch etwas, das sie dringend erneuern musste. Doch immer, wenn sie in den letzten Jahren den Entschluss gefasst hatte, ihr Geld für Kleidung zu sparen, riefen die unförmigen Bleikugeln sie wie Sirenen, die sie an ihre Felsen locken wollten. Und sie war ihrem Lockruf stets erlegen. Jeden einzelnen Tag. Denn wenn sie nicht schießen konnte, wenn sie nicht trainieren konnte, dann war sie nicht mehr sie selbst: Keine Piratin, sondern nur noch ein armes Mädchen in diesem stinkenden Hafen.
Sie gelangte auf einen plattgetrampelten Pfad, der sich zwischen den lichten Wiesen, die mehr etwas von mit trockenen Sträuchern gespickter Erde hatten, hindurchschlängelte. Von hier oben konnte man im schnell schwindenden Tageslicht die windschiefen Dächer und moosüberwucherten Häuser von Tortuga bis hin zu den im Hafen vor Anker liegenden Schiffen überblicken. Eingerahmt wurde die kleine Stadt von Feldern und Palmen, was sie beinahe idyllisch wirken ließ. Doch dann betrachtete man die weißen Flecken auf den kaputten Dachschindeln und Strohdächern genauer und wurde daran erinnert, dass das hier einfach nur ein Scheißloch war, auf das sogar die aberhunderten Möwen, die diesen Ort belagerten, einen Dünnpfiff gaben.
Ihr Blick schoss nach oben, als ein Blitz die Wolkendecke erhellte. Diesmal war er viel näher als zuvor.
Sie beschleunigte ihre Schritte und mit jedem Donnergrollen zwang sie sich, schneller zu werden, bis sie zwischen den Wiesen hindurchrannte wie ein gehetzter Hase. Die Welt um sie herum verfinsterte sich immer mehr, und langsam verschwammen die Dächer vor ihr mit den tiefliegenden Wolken und der Dunkelheit, die um sich griff.
Sie drehte den Kopf und sah ein letztes Mal aufs Wasser hinaus, das nun aufgewühlt an den Strand brandete, in der Hoffnung, doch noch das Schiff ihres Vaters zu sehen. Aber die mittlerweile fast schwarze Gewitterfront verschluckte den Horizont und mit ihm auch die letzten Strahlen der Sonne wie ein umgeschüttetes Tintenfass.
Ein Blitz, gefolgt von einem lauten Krachen, ließ sie aufschreien und schützend die Hände über den Kopf schlagen. Panik schwoll in ihrer Brust und sie kniff hektisch atmend die Augen zusammen.
Tränen sammelten sich darin, als es erneut donnerte, und sie krallte die Finger wimmernd in die Erde. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie aufgehört hatte zu laufen und sich auf dem Pfad zusammenkauerte.
»Ich habe keine Angst«, flüsterte sie leise und zwang sich, langsam aufzustehen. Ihre Muskeln wollten ihr kaum gehorchen, doch schließlich setzte sie sich wieder in Bewegung.
Den Blick auf das vereinzelte Flackern von Laternen in der Ferne gerichtet, rannte sie weiter, während sie ihre Worte immer und immer wieder in Gedanken wiederholte und gegen die Angst, die mit jedem Donnergrollen und mit jedem zuckenden Blitz aufwallte, anschrie.
Dann setzte der Regen sturzbachartig ein und peitschte unbarmherzig über sie hinweg. Scarlet wusste, dass das Wasser warm war, dennoch stach es in ihre Haut wie Tausende Nadeln.
Keuchend stürzte Scarlet auf das erste Haus zu, das sich aus der Dunkelheit schälte. Mit zusammengekniffenen Augen stützte sie sich an der Hausecke ab, ehe eine Flut aus Bildern über ihr zusammenbrach. Sie stand nicht mehr auf der matschigen Straße zwischen windschiefen Häusern. Sie befand sich auf einem schwankenden Schiff und drohte, den Halt zu verlieren.
Ihre Finger bohrten sich in die Reling, während der Regen in ihr Gesicht peitschte und ihr die Sicht nahm. Ein Schrei zerfetzte die Luft, als einer der Männer über das geneigte Deck rutschte und in den tosenden Wellen hinter der Reling verschwand. Angst klammerte sich um Scarlets Herz und ihre Muskeln ächzten unter der Anstrengung, während sie versuchte, dem gleichen Schicksal zu entkommen.
Eine tiefe Stimme grollte mit dem Donner über Deck, ein Befehl, der vom Wind fortgezerrt wurde. Ihr Blick fand den Umriss ihres Vaters achtern, das Steuerrad in der Hand trotzte er dem Sturm stoisch wie ein Fels, und Stolz füllte ihre Brust.
Sie schluckte die Angst hinunter und schob sich langsam vorwärts, um zu ihm zu gelangen. Sie wollte, nein, sie musste an seiner Seite sein und irgendetwas tun, um sie alle aus dieser Misere herauszumanövrieren.
Eine Hand an ihrer Schulter ließ sie herumfahren und sie starrte in ein von nassem roten Haar gerahmtes Gesicht, das ihrem sehr ähnlich war.
»Was machst du hier?«, brüllte ihre Mutter über den Wind hinweg und Angst glänzte in ihren grünen Augen.
»Ich muss zu Vater!«, erwiderte Scarlet und wollte sich abwenden, doch ihre Mutter packte sie fest am Handgelenk und hielt sie zurück.
»Das ist viel zu gefährlich. Geh unter Deck!«
Scarlet schüttelte den Kopf, doch ihre Mutter festigte ihren Griff. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, sodass sich die Sommersprossen darum kräuselten. Dann zog sie sie mit sich, an der Treppe des Achterdecks vorbei und fort von Vater.
Scarlet stemmte sich gegen den Griff, hatte jedoch keine Chance, sich loszumachen. Als sie die Treppe erreichten, die zu den Offizierskajüten führte, drängte ihre Mutter sie die Stufen hinab, doch Scarlet krallte sich in das Holz des Geländers und sah auf.
»Ich muss zu Vater. Ich muss irgendetwas tun!«, schrie sie ihr entgegen und riss sich los.
»Du tust etwas. Und zwar bleibst du unter Deck, damit wir uns nicht auch noch Sorgen um dich machen müssen.« Sie griff wieder nach ihr, um sie weiter hinabzuschieben.
»Ich bin kein kleines Kind mehr!«, schleuderte sie ihr entgegen und machte sich erneut los, sodass ihre Mutter nach hinten taumelte. »Ich bin Blackbeards Tochter, ich bin eine Piratin. Ich verstecke mich nicht unter Deck, während unsere Männer dem Tod ins Auge sehen!«
Kurz meinte Scarlet, Stolz in den Augen ihrer Mutter aufflackern zu sehen, doch es konnte auch die Reflexion eines Blitzes sein, der über den dunklen Himmel zuckte. Dann trübte sich ihr Blick und ihre Lippen wurden noch schmaler, als sie sie erneut packte und hinter sich die Treppe hinab und den Gang entlangzerrte.
»Mama! Lass mich los!«
Sie stieß die erste Tür auf und schubste Scarlet in die Kabine, dann knallte sie sie zu und ein Klicken ertönte, als ein Schloss einrastete.
Scarlet warf sich gegen die Tür und rüttelte an dem Griff. »Das kannst du nicht machen!«, schrie sie und Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Ich bin kein kleines Kind, das du einfach einsperren kannst!«
»Ich bin stolz auf dich.«
Scarlets Faust kam auf dem Türblatt zu ruhen, als sie schwer schnaufend erstarrte.
»Du bist eine wahre Piratin. Aber egal, wie erwachsen du bist, du wirst immer meine kleine Tochter sein, und wenn ich dich einsperren muss, um dich zu beschützen, dann werde ich das tun, selbst wenn du bereits alt und grau bist.«
Das Hämmern von Stiefeln auf Planken verriet ihr, dass ihre Mutter wieder an Deck rannte, und sie machte sich erneut am Türgriff zu schaffen.
Sie musste hier raus. Sie konnte nicht einfach tatenlos hier unten sitzen. Sie musste doch irgendetwas tun können!
Würgend erbrach Scarlet ihren Mageninhalt in den Matsch.
»Geh nicht«, wimmerte sie und schwankte gegen die Hauswand wie auf einem vom Sturm gebeutelten Schiff. »Geh nicht, bleib bei mir.«
Sie kniff die Augen zusammen. Wieso war ihre Mutter nicht mit ihr in der Kajüte geblieben? Dann … dann …
Mit zusammengebissenen Zähnen zwang sie sich, vorwärtszugehen. Langsam schob sie sich an der Hauswand entlang und versuchte, sich aus ihrem eigenen Kopf zu befreien. Jeder Donner versetzte sie acht Jahre in die Vergangenheit und jeder Blitz, der ihre Umgebung erhellte, holte sie in die Wirklichkeit zurück. Ihre Welt drehte sich schwindelerregend, während Vergangenes mit der Gegenwart verschmolz und sie das Gefühl hatte, als wäre sie bereits über die Reling geschleudert worden und würde in den tosenden Wellen versinken.
»Ich habe keine Angst«, murmelte sie und es hörte sich an wie ein lächerlicher Witz. Wofür hatte sie sich die letzten acht Jahre gezwungen, bei jedem Sturm nach draußen zu gehen, sich ihren Gefühlen zu stellen, um auf See auch bei Unwetter zu bestehen, wenn sie sich jetzt, da es bald so weit war, kotzend an einer Hauswand entlanghangelte?
Wieder krachte es und sie rannte blindlings los. Ein Schrei entglitt ihr, als sie in eine Pfütze trat und knöcheltief in das eisige Wasser einsank, wo der Lehmweg aufgerissen war.
Es war, als hätte man ihr einen Eimer Wasser über dem Kopf ausgekippt und sie nach einer durchzechten Nacht in die Realität zurückgeholt. Fluchend stolperte sie aus der Pfütze und schüttelte das Wasser aus ihrem durchweichten Schuh.
Ein Blitz erhellte den Himmel über ihr. Sie zuckte erneut zusammen und zog den Kopf ein, als wolle das Krachen sie niederdrücken.
Nein. Scarlet schüttelte den Kopf und straffte ihre schmerzhaft verspannten Schultern. Sie war stärker als das. Ihre Mutter hatte sie einst eingesperrt, um sie zu beschützen. Doch sie war nicht mehr dreizehn und nun würde sie ihren Platz einnehmen. Sie würde ihre Mannschaft beschützen, so wie sie es einst getan hatte, und sie stolz machen. Dafür musste sie stark sein.
Schlotternd schlang sie die Arme um sich und senkte den Kopf, um dem Unwetter zu trotzen. Dann hastete sie weiter. Die einzigen Wegweiser waren die Flammen der Öllampen, die an den Dachbalken links und rechts ihres Weges im Wind schaukelten. Zusammen mit jedem Platschen und dem damit verbundenen unangenehmen Einsinken ihres rechten Fußes in die durchweichte Sohle, hielten die Lichter die Bilder fern, die immer wieder versuchten, ihre Sicht zu vereinnahmen.
Sie bog um die Ecke und konnte schon von Weitem das hell erleuchtete Freudenhaus ausmachen. Das Holzschild quietschte vom Sturm gebeutelt in seinen Angeln und ließ die Meerjungfrau darauf schaukeln, als schwämme sie durch wogende Wellen.
Scarlet schloss ihre klammen Finger um den eisernen Türgriff und Erleichterung durchflutete sie, ehe sie die Tür aufriss und von der Wärme angezogen, die ihr entgegenwaberte, ins Innere stolperte. Sie fiel hinter ihr ins Schloss und der Lärm aus Stimmengewirr, Gelächter und klapperndem Geschirr löste das wütende Heulen des Sturmes ab.